1. Beschreibung und eingeladene Gäste
Ein Charakteristikum des Vizekönigreichs Neuspaniens, das vom 16. bis zum 19. Jahrhundert Teil des spanischen Imperiums war, ist seine Transkulturalität: Neuspanien ist ein Ort, an dem sich Ideen, Konzepte, Praktiken und Diskurse verschiedener Provenienz kreuzen und miteinander verbinden: die europäische Tradition, die präkolumbianische Kultur, die afrikanische Tradition und die conciencia criolla, die sich im kolonialen Kontext des 17. Jahrhunderts herausbildet. Im Mittelpunkt der Sektion steht eine der bekanntesten Repräsentantinnen dieses transkulturellen, ‘globalisierten’ Raums im 17. Jahrhundert, die Schriftstellerin und Ordensschwester Juana Inés de la Cruz, wobei auch andere Autoren des neuspanischen Kontextes Berücksichtigung finden sollen, deren literarisches Werk an den Schnittstellen unterschiedlicher kultureller Traditionen anzusiedeln ist. Unter besonderer Berücksichtigung der conciencia criolla als einer neuen Form der kulturellen Identitätsfindung, durch die sich die in den Kolonien lebenden Hispanoamerikaner von ihren spanischen Vorfahren abgrenzen, zentriert sich die Sektionsarbeit um das zwiespältige Verhältnis der Schriftsteller zur kolonialen Epistemologie und den damit einhergehenden imperialen Normen.
Die Analyse der transkulturellen Aspekte im Werk von Sor Juana Inés de la Cruz und anderen Dichtern stützt sich auf die folgenden drei Themenschwerpunkte:
- Sor Juana im sozio-kulturellen Kontext Neuspaniens
Der erste Schwerpunkt liegt auf der kreolischen und weiblichen Identität Sor Juanas. Auf welche Weise bildet sich in ihren Texten eine kreolische Identität heraus, die sich von anderen Identitätsmodellen der Epoche unterscheidet? Welches sind die Spezifika ihrer weiblichen Identität, die nicht nur in der berühmten Respuesta a Sor Filotea eine wichtige Rolle spielt, sondern auch in ihrem Theaterstück Los empeños de una casa sowie in den lyrischen Selbstporträts? Inwiefern werden autobiographische Elemente in den literarischen Diskurs eingelassen, die dem subalternen, kreolischen und weiblichen Subjekt Artikulationsspielräume eröffnen? - Der ‘Barroco de Indias’ und die literarische Tradition Spaniens und Europas
Der zweite Themenschwerpunkt widmet sich der literarischen Praxis des Kolonialbarocks im Verhältnis zur kulturellen Tradition der Kolonialmacht: Inwiefern wird die spanische Barockliteratur im Werk der mexikanischen Dichterin und anderer Autoren aufgegriffen, reflektiert und überschrieben? Wie wird der kulturelle Transfer von Themen, Formen, Stilen und Gattungen europäischer Provenienz modelliert? Hier könnte man beispielweise an Transformationen des petrarkistischen Diskurses denken oder auch an Adaptionen konzeptistischer Rhetorik und dezidiert spanisch-imperialer Genres wie etwa des auto sacramental. - Die Konfrontation mit der kolonialen Wissensordnung und dekoloniale Perspektiven
Der dritte Schwerpunkt untersucht die Stellungnahmen zur kolonialen Epistemologie, die sich in den Schriften neuspanischer Autoren finden lassen. Inwiefern werden in ihren Werken imperiale Wissensstrukturen gefestigt und inwiefern bringen sie konterdiskursive, ‘postkoloniale’ Wissensmodelle hervor im Sinne einer Subversion der imperialen Epistemologie? Welches sind die diskursiven Strategien des “epistemischen Ungehorsams” und des “Grenzdenkens” (im Sinne Walter Mignolos), mittels derer koloniale Ordnungen des Denkens im Modus der literarischen Fiktion überwunden werden? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die generelle Frage nach einer möglichen Applikation der postkolonialen Theorien Lateinamerikas (Aníbal Quijano, Enrique Dussel, Walter Mignolo u.a.) auf die Kolonialliteratur und die Wissensordnungen des 17. Jahrhunderts.