1. Beschreibung und eingeladene Gäste
Sektionsbeschreibung
Die Figur der Antigone blieb für die spanischsprachige Welt lange Zeit weitgehend bedeutungslos. So partizipierte Spanien beispielsweise nicht wie Frankreich oder Italien am Antigoneboom des 17. und 18. Jahrhunderts in der Oper und im Theater. Erst im 20. Jahrhundert beginnt im spanischsprachigen Raum das Interesse an der Figur des Sophokles in Spanien (Salvador Espriu, José Bergamín) und Lateinamerika (Leopoldo Marechal, Jorge Andrade). Hierbei erscheint von besonderer Bedeutung die Auseinandersetzung mit der Figur des antiken Theaters durch María Zambrano in La tumba de Antígona (1967).
Die Situation änderte sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in den letzten zwanzig Jahren. Antígona gilt im aktuellen Lateinamerika inzwischen als Symbolfigur des Protests und Widerstands, insbesondere von Frauen, gegen politische, ökonomische und soziale Missstände, gegen Gewalt, Staatswillkür und Diskriminierung. Eine Reihe von Texten literarischer und nichtliterarischer Art präsentiert eine Antígona, die sich auflehnt und Missstände anprangert oder zur Streiterin für ein besseres Leben in Lateinamerika wird.
Die Sektion möchte sich dem Phänomen der Antígona del Sur in drei Themenfeldern widmen. Zum einen sollen aktuelle lateinamerikanische Texte zur Antígona präsentiert und analysiert werden (z.B. von Jorge Huertas, Luis Rafael Sánchez, Daniela Cápona Pérez, Sara Uribe), wobei hier vorrangig ihre lokale Verortung, ihre spezifische Funktion im postkolonialen Kontext und ihr Einfluss auch im Vergleich zu europäischen Verarbeitungen des Stoffes interessieren dürfte.
Ein weiteres Themenfeld gilt aktuellen lateinamerikanischen Theateradaptationen der griechischen Tragödie. Auf welche Weise wird hier Bezug zur antiken Antigone hergestellt? Welche aktuellen Themen werden mit den Aufführungen verbunden? Dramaturgie, Übersetzung und lokale Aufführungspraxis stehen dabei im Mittelpunkt der Betrachtung.
Die Frage nach dem Bezug zur antiken Figur prägt auch das dritte Themenfeld der Sektion, kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Stellenwert der Antigone als Symbolfigur einer aktuellen und vorwiegend feministischen Protestkultur. Warum Antigone und warum erst in postkolonialen Zusammenhängen? Welche Bezüge bestehen hier noch zur Sophokleischen Figur oder wurden diese bereits gekappt?
Über Jahrzehnte war Antigone eine beliebte Figur der kritischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, von Lacan über Judith Butler zu Slavoj Žižek. Hier interessiert auch, inwiefern die Symbolfigur der Antigone im lateinamerikanischen Diskurs kritisch reflektiert wird, eventuell im Rekurs auf philosophische Überlegungen.
Die Sektionsarbeit erhofft sich als Ergebnis Antworten auf die Frage, wie sich die Narrative zur Antigone im Süden ändern. Welche Diskurse schaffen dabei lateinamerikanische Theoretiker und Kritiker, wie z.B. Bolívar Echeverría, Silvia Rivera Cusicanqui oder María Lugones? Was verändert sich im Text der Antigona auf ihrem Gang nach Süden? Können wir sie noch verstehen? Sind noch Bezüge zur klassischen und europäischen Figur zu erkennen? Oder hat sich die Antígona del Sur inzwischen bereits vollständig emanzipiert und ist als eigenständiges lateinamerikanisches Phänomen zu verstehen?