1. Beschreibung und eingeladene Gäste
Eines der ersten spanischen Wörterbücher, Sebastian de Covarrubias Tesoro de la lengua castellana o española (1611), bezeichnet sich selbst als Schatzkammer. Damit kann es als programmatisch für die Auseinandersetzung mit der Fülle in seiner Zeit verstanden werden. Ein „tesoro“, so der entsprechende Eintrag, „es un escondidijo y lugar oculto, do se encerrò alguna cantidad de dinero, oro, o plata, perlas y joyas, y cosas semejantes [...]“. Dabei weist schon der Titel des Werks darauf hin, dass Bücher solche Schätze genauso gut versammeln können wie Orte, etwa die Schatzkammer. Wie viele frühneuzeitliche Texte und Artefakte mit enzyklopädischen Ansprüchen, gilt Covarrubias’ Tesoro als eine (politisch umstrittene) Schatztruhe: ihre Goldstücke, ihre Perlen sind spanische Worte, die aus anderen Sprachen abgeleitet sind. Zudem definiert Nebrija in seinem Wörterbuch von 1495 lugar einerseits als einen „locus“, „en que esta alguna cosa“, verwendet den Begriff jedoch andererseits auch synonym mit „conceptaculum“, „receptaculum“, „repositorum“, „refugium“ und „forum“. In der Folge bezeichnet das Wort lugar nicht nur eine Textstelle, sondern auch einen heuristischen und oft materiellen Ort wie das Museum oder den Garten, an dem man Ideen und Objekte präsentieren, erhalten und entdecken kann. Dabei bietet so eine lokale Verortung von Fülle erstens die Möglichkeit, Fülle auszustellen, zweitens diese bereit zu halten und schließlich ihrer potentiellen Unübersichtlichkeit ordnend zu begegnen. Das wird etwa in Erasmus von Rotterdams De copia (1512) deutlich, in dem das Repertoire an Textstellen und Redewendungen, das sich der gute Redner anlegen soll, als Schatztruhe aber auch als Lager und wohlgeordnete Tafel bezeichnet wird.
Unsere Sektion widmet sich den frühneuzeitlichen Orten der Fülle. Sie befragt sie als Formen des literarischen Umgangs mit der frühneuzeitlichen Überwältigung durch eine Flut an neuen Dingen, Sprachen und Diskursen, die durch die sogenannten wissenschaftlichen Revolutionen und nicht zuletzt durch die territoriale Expansion bedingt sind. Dieses „coping with copia“ (Fabian Krämer) ist von der neueren Forschung aus verschiedenen Perspektiven untersucht worden. So stellen Lorraine Daston und Katherine Park „Wunderkammern“ in ihren wissensgeschichtlichen Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Faszination am Außergewöhnlichen; so handeln Ann Blair und Daniel Rosenberg von Umgangsformen mit und Effekten des frühneuzeitlichen „information overload“; oder so versteht Hans Belting Hieronymus Boschs Garten der Lüste als malerische Fassung einer weltlichen wie imaginativen Fülle. Die Reihe dieser wissenschafts-, medien- oder kunstgeschichtlichen Untersuchungen ließe sich leicht fortführen. Für das spanische Siglo de Oro, in dem sich die Fülle auf besondere Weise räumlich und zeitlich manifestiert, steht eine grundlegende literaturwissenschaftliche Behandlung der verschiedenen Erscheinungsformen der Fülle jedoch noch aus. Mit Orten der Fülle soll auf dem Hispanistentag dazu ein Beitrag geleistet werden, der sich auch den interdisziplinären Herausforderungen des Themas stellt. Autoren wie Garcilaso de la Vega, Ercilla, Inca Garcilaso, Cervantes, Góngora, Soto de Rojas, Sor Juana Inés de la Cruz und Sigüenza y Góngora kultivieren alte lugares (loci communes), um neue Einsichten und Ideen auszudrücken. Ebenso gestalten Chronisten, Enzyklopädisten, Architekten oder Maler neue materielle und begriffliche Orte, Räume und Denkräume, um ihre erweiterte Welt zu repräsentieren.